Kerstin Flake

1. – 30. November 2022
Haus Muche
// Einladung //

Geboren in Karlsruhe, studierte Kerstin Flake zunächst Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, von 1997 bis 2003 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig in der Fachklasse „Fotografie und Medien“ bei Professor Joachim Brohm. 

Für das Jahresprogramm 2023 hat die Stiftung Bauhaus Dessau die Leipziger Fotografin eingeladen, zwei Fotostrecken zu zeigen: Shaking Surfaces (Erschütterungen) und Replaces (Platzhalter). In ihren Serien scheint die Physik außer Kraft gesetzt. Dinge geraten in Aufruhr, Alltagsgegenstände entfalten eine Eigendynamik und büßen einstige Funktionen ein. Menschen verlieren buchstäblich ihre Standfestigkeit, sie schweben. Apparaturen und Gerätschaften vibrieren, bekommen ein Eigenleben und scheinen ihrer eigenen Choreografie zu folgen. Flakes Inszenierungen, die der fotografischen Aufnahme vorangehen, werden aufwendig geplant und äußerst akribisch vorbereitet, bis die Szene im Raum zum Bild wird. Dennoch verströmen die Fotografien Leichtigkeit. Unmögliches scheint plötzlich möglich. Bewegung bringt Veränderung, beendet den Stillstand, lässt Handeln zu. 

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Kerstin Flake, Bauhaus Residenz 2022, Haus Muche, 4.11.2022 / Stiftung Bauhaus Dessau, Foto: Kerstin Flake

Wie würden Sie das Zentrum Ihrer künstlerischen Praxis beschreiben?

Meine Fotografien zeigen Objekte, die wie Porträts inszeniert sind und ein irritierendes Eigenleben zu führen scheinen. Wesentlich für meine künstlerische Herangehensweise ist es, Orte aufzusuchen, an denen zeittypische Hinterlassenschaften von Leben und Arbeit zu finden sind. Durch gezielte Interventionen befreie ich die vor Ort gefundenen Gegenstände von ihrer ehemaligen Funktion, sodass vor der jeweiligen architektonischen Kulisse neue räumliche Beziehungen entstehen können. Zudem weise ich den Dingen ungekannte Eigenschaften zu, die an einen bizarren Spuk denken lassen. In den Aufnahmen erzeugen die Objekte eine Wirklichkeit, in der physikalische Gesetze keine Rolle mehr spielen. Die filigranen Rauminstallationen übersetze ich mit der Plattenkamera oder Digitalkamera ins zweidimensionale Bild. Das Medium der Fotografie wird dabei selbst mit seinen Grenzen und Möglichkeiten zwischen Dokumentation und Fake, Aktualität und Zeitlosigkeit, Raum und Fläche, Autorschaft und Zufall immer wieder neu verhandelt.


Wie fühlt es sich an, ein ganzes Kulturerbe zu bewohnen?

Ein Echo entsteht, wenn man durch das Haus mit seiner kargen Möblierung läuft. Schweben wäre die bessere Fortbewegungsart. Treppauf und treppab bewege ich mich durch dieses großzügige Treppenhaus, das an der Stirnwand ein vertikales Fensterband hat. Der Blick bietet einen imposanten Ausblick auf die Natur. Innen und außen sind miteinander verbunden, dort der Kiefernwald, hier das Kulturerbe. Erholung und Kreativität, ganz dicht beieinander. Ein gutes schöpferisches Gefühl.


Wie begegnet man einem Haus mit dieser Geschichte?

Ich stelle mir vor, wie in den 20er Jahren alles in Bewegung kam und neue Antworten gesucht wurden. Man „begegnet“ den Ideen, die über ein besseres Wohnen für Alle nachdachten. Eine der zentralen Frage war „Wie wollen wir leben?“ Das wichtige Wort war „Gemeinschaft“. Diese Frage ist nicht gealtert und gewinnt gerade jetzt wieder an Aktualität. Waren die Treppen nicht nur verbindende Elemente zwischen den Stockwerken, sondern vielleicht auch Begegnungs- Kommunikationsorte? Auch die große Zahl an Interessierten, die hier täglich vor den Häusern vorbeiflanieren, ist erstaunlich. Die Aktualität der Meisterhäuser hält an, das ist prima.


Arbeitet es sich in einem Weltkulturerbe anders?

Im Meisterhaus Muche morgens die Holzrollläden hochzuziehen und dem „Tuckern“ der Lamellen zuzuhören, ist einzigartig. Ich erlebe den Sonnenauf- und Untergang in dem UNESCO-Kulturerbe. Dazwischen liegt der künstlerische Aufbau der Bilder. Mit dem Erkunden der Architektur, erfahre ich, wie sich das Licht in den Räumen zu jeder Tageszeit verändert. Ich kann etwas beobachten, was schon in den 20er Jahren bestaunt worden ist. Künstlerisch arbeiten und wohnen, vereint am selben Ort. Hier das kleine quadratische Schlafzimmer, ein paar Schritte weiter eröffnet sich der sehr großzügige Atelierraum mit einer gewaltigen Fensterfront. Lichtdurchflutet der Raum zum Denken, die Verbindung nach Außen ist stets zu spüren. Glas und Mauer wechseln sich ab. Zum Pausieren laden die unterschiedlichsten Balkone rund um das Haus ein, um den Harzduft der Tannennadeln einzuatmen und den Ausblick zu genießen. Natürlich ist man auch sorgsam im Haus unterwegs und hält die vorgegebenen Hausregeln ein, damit dieses Gut erhalten bleibt.


An was haben Sie im Haus Muche gearbeitet?

Durch die Spieglung des Doppelhauses und die gleichzeitige Drehung des Grundrisses um neunzig Grad, fehlte mir am Beginn das wirkliche Verstehen der Räumlichkeiten und der Himmelsrichtungen. Diese Verdrehung löste eine leichte Orientierungslosigkeit aus. Das war ein guter gedanklicher und gefühlter Nährboden, um bizarre Konstellationen vor Ort zu entwickeln, neue Fragen zu stellen. Das Doppelhaus diente mir mit all seinem Räumen & Kiefernwald temporär als Atelier. Überall konnte ich Installationen vor der Kamera aufbauen, neue Dinge ausprobieren und sie wieder verwerfen. Im Haus Muche gelangte ich irgendwann zu einem rätselhaften Bildaufbau, in dem sich das karge Mobiliar scheinbar selbsttätig in Bewegung setzt – bis hin zur Auflösung der festen Umrisse.

Während meines Aufenthaltes wurde ich vom ganzen Team der Stiftung des Bauhaus Dessau intensiv unterstützt. Dadurch konnte ich künstlerisch zu ganz neuen Bildergebnissen gelangen.