Hygiene

Jahresthema der Stiftung Bauhaus Dessau 2022.

Hygiene ist eines der zentralen Themen der Moderne. Die auf den Funktionalismus reduzierten Umgebungen der Bauhaus-Gebäude sind ein Beispiel dafür, dass Sauberkeit ein grundlegender Wert für die vom Bauhaus beeinflusste Gestaltung war. Eine neue Materialkultur überzog die Gebäude, Räume und Einrichtungsgegenstände mit glatten und sauberen Oberflächen aus industriell gefertigten Materialien. Doch durch die Einführung elektrischer Beleuchtung wurde alles Verborgene und Verstaubte nur noch mehr sichtbar. „Sauberkeit“ galt dabei nicht nur materiell, sondern auch sozial und moralisch als eine anzustrebende Qualität. In dieser Hinsicht war das Bauhaus eine der kulturell einflussreichsten Institutionen, die ein bestimmtes westliches Verständnis von Reinigung, Schmutzvermeidung und Ordnung in Verbindung mit Design förderten und durchsetzten.

Eine weitere Perspektive der Moderne, die mit Reinheit verbunden ist, zeigt sich beispielsweise auch in der Formulierung der Anthropologin Mary Douglas „dirt is a matter out of place“ [„Schmutz ist eine Sache, die nicht an ihrem Platz ist“, 1966], die kulturelle Konstruktionen und Denkmuster moderner Betrachtungsweisen zusammenfasst, die, gestützt auf Wissensregime und Machtstrukturen, Vorstellungen von Ordnung, einschließlich „richtiger“ und „falscher“ Orte für Dinge und Menschen, produzieren und aufrechterhalten. In Rassismus und Fremdenfeindlichkeit setzen sich diese Denk- und Handlungsstrukturen bis in die Gegenwart fort. Doch die impliziten reinigenden und homogenisierenden Muster, die hier am Werk sind, sind seit langem Gegenstand der Kritik. Bruno Latour spricht beispielsweise von der modernen Wissenschaftstheorie der „Reinigung“, die zwei völlig getrennte „ontologische Zonen geschaffen hat, die des Menschen auf der einen Seite, die des Nichtmenschen auf der anderen“, 2008]. Die im Zuge des Kolonialismus geförderte Zerstörung indigener Wissens- und Kultursysteme, die auf hybriden Verflechtungen zwischen Natur und Kultur beruhen, war ebenso Teil des Paradigmas der Reinigung.

Die Veranstaltung wird auch als Zoom-Webinar durchgeführt.

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Pre-Workshop „Umgang mit Dreck – Reinigen und Filtern“

In einem vorbereitenden Workshop nehmen die internationalen Studierenden der beiden beteiligten Masterstudiengänge Coop Design Research und Open Design ihre unterschiedlichen kulturellen und disziplinären Zugänge zum Ausgangspunkt für multidisziplinäre Erkundungen aktueller Wissensformen, Praktiken und Diskurse des Reinigens und Filterns: Themen wie die Wissenschaft des Schmutzes, das Filtern in und aus dem Menschen und Antiseptik-Skepsis etc. werden Gegenstand von experimentellen Übungen und Expertendiskussionen sein. Die Ergebnisse werden am 17. Juni im Coop Study Space im Bauhausgebäude präsentiert.

Partizipative Installation „Sauberkeit verlernen“

In einer partizipativen Anordnung greifen Studierende des Coop Design Research das Jahresthema der Stiftung Bauhaus Dessau auf und beziehen die Besucher*innen in ihre Forschungsprozesse ein. Ausgehend von dem vorangegangenen Workshop gemeinsam mit dem Open Design Master an der Humboldt Universität in Berlin und inspiriert von Fritz Horstmann’s Assemblage historischer Bauteile der Bauhausbauten in der Ausstellung „Archäologie der Moderne“ im Kellergeschoss des Bauhausgebäudes interpretieren die jungen Designforschenden diese Form der materiellen Auseinandersetzung in ihrem Klassenraum neu. Dabei verflechten sich zeitliche und räumliche Parameter der Materialitäten der Moderne, die ebenso Fragestellungen nach den Beziehungen zu mehr als menschlichen Akteuren stellt – vom Objekt zum Ding.

Roundtables

In den Roundtable Diskussionen stellen Alumni des Master Programms Coop Design Research und des Bauhaus Labs ihre Forschungsarbeiten vor. Thematisch werden in diesem Jahr drei Schwerpunkte im Zusammenhang mit „Hygiene“ im Design gesetzt, die von Lucia Pietrouisti, Michaela Büsse und Adam Drazin moderiert werden.

Im Roundtable „Materialities of Dirt“ wird Lucia Pietrouisti mit Mya Berger, Lili Carr, Anastasiia Fomina über Betrachtungen von Design aus einer materiellen Perspektive sprechen. Ein  Paradigmenwechsel von der Betrachtung von Objekten hin zu Betrachtungen materieller Verflechtungen in aktuellen Forschungspositionen der Designforschung eröffnet Potentiale für eine Reinterpretation von dem, was „Schmutz“ ist.

Im Roundtable „I have a problem with cleanliness“ wird Adam Drazin mit Aída Herrera Peña, Charlie-Anne Côté und Nancy Dayanne Valladares Formen des Reinigens in Zusammenhang mit Designpraktiken diskutieren. Dieses Panel geht von der Prämisse aus, dass Modi der Reinigung bestimmten Designpraktiken innewohnen. Die Beitragenden werden hier die Produktion von Sauberkeit als ein Feld von Verhandlungen zwischen Materialitäten, Modi und Regeln untersuchen.

Im dritten Roundtable „Meshworks – Design Research as Reconfiguring Natureculture Constellations“ diskutiert Michaela Büsse gemeinsam mit Laya Venkata Chirravuru, Maya Errazuriz und Elisabetta Ratalino universalisierende Behauptungen über das Wesen des Designs, die oft die vielfältigen Geschichten und Körper außer Acht lassen, die in materielle Praktiken involviert sind. Dabei beschäftigen sich die Referent*innen mit Fragestellungen, inwieweit die Designforschung dazu beitragen kann, materielle und koloniale Hinterlassenschaften zu entwirren, anstatt Ungleichheiten zu reproduzieren. „Sauber“ und „schmutzig“ sind hier vermeintliche Dichotomien; sie sind zwei Seiten derselben Medaille.

Workshop „Wiping off Labour“

In Ottonie von Roeders Workshop werden Besucher*innen dazu eingeladen, Arbeitsgeräte, wie Laptops, Handys oder Notizbücher in einer besonderen Form zu reinigen. Den Reinigungsprozess begleitend, unterhält sich die Designforscherin mit den Teilnehmer*innen über die Automatisierung von Arbeit und damit zusammenhängenden kritischen Fragestellungen einer gestalteten Arbeitswelt, in der Standardisierung und Massenproduktion menschliche und nicht-menschliche Handlungen beeinflussen. Begleitet wird die performative Anordnung von spekulativen Videoarbeiten, die die Mechanisierung von Arbeit durch beispielsweise Reinigungsroboter thematisieren.

Audiostation „Radio Palladio: Architektur und ihr ständiger Unfrieden“

Unter der Leitung von Angelika Schnell und Antje Lehn erstellten sechzehn Studierende der Bachelor Design Studio Plattform HTC (History | Theory | Critique) des Instituts für Kunst und Architektur (IKA) der Akademie der bildenden Künste Wien Radiobeiträge für das Programm RADIO PALLADIO. Im Rahmen des Studios setzten sie sich mit zeitgenössischen Architekturprojekten und den damit verbundenen geschichtstheoretischen Fragen auseinander. Im Rahmen der Study Rooms werden ausgewählte Beiträge in einer Audiostation zu hören sein.

Das Studio begann mit einem Radiofeature von Theodor Adorno von 1959 mit dem Titel „Was heißt Aufarbeitung der Vergangenheit?“ (Adorno 1971) Mit dem Postulat „Der Nationalsozialismus lebt weiter!“ plädierte Adorno eindringlich dafür, die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren, denn ihre Zerstörung wäre ein Verrat an den Opfern der NS-Verbrechen, die auf diese Weise sogar ihrer Erinnerung beraubt würden. Der Begriff „Erinnerungskultur“ steht ursprünglich im Zusammenhang mit der Betonung der Opferperspektive, die Adorno damit forderte und einführte. Die ersten Orte, Architekturen und Denkmäler, die für ein solches Gedenken an eine „negative Geschichte“ geschaffen wurden, waren Gedenkstätten, Holocaust-Mahnmale und künstlerische Interventionen. Doch mit dem Ableben der Überlebenden hat sich die Perspektive der nachfolgenden Generationen auf eine Erinnerungskultur erweitert. Unter dem Deckmantel des behutsamen Umgangs mit der Vergangenheit scheint es – vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich – Bestrebungen zu geben, mit Hilfe der Architektur die Geschichte gewissermaßen zu „entschärfen“. Die Strategien sind unterschiedlich, aber die Intention ist dieselbe: Rekonstruktion des Zustandes von Gebäuden vor 1933, um „unbefleckt“ zu erscheinen; Streben nach einem kubischen, weißen, minimalistischen Stil, der „Neutralität“ vorgibt; Deklarierung monumentaler Motive als politisch neutrale Stilmittel, obwohl sie in direktem Zusammenhang mit den Schrecken der NS-Zeit stehen.