Ein Unternehmen wider die Natur zum Zweck der Ordnung – von Torsten Blume

- Ebenbild, Übermensch oder Fantasiegestalt? Oskar Schlemmer wollte in seinen Bühnenexperimenten auch immer die Anmut des Mechanischen hervorheben. Trotz allem Maschinellen ging es ihm dabei vor allem um eines: den Menschen.
»Nicht Jammer über Mechanisierung, sondern Freude über Präzision! Die Künstler sind bereit, die Schattenseiten und Gefahr ihres mechanischen Zeitalters in die Lichtseite exakter Metaphysik umzumünzen.«[1] Oskar Schlemmer, 1926
Der Siegeszug der Technik zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte auch vor der Bühne nicht Halt – selbst hier veränderte die neue, einflussreiche Größe die Sichtweise auf die Welt und nicht zuletzt auf den Menschen. So hatte beispielsweise Bauhausmeister László Moholy-Nagy in seinen Bühnenkonzepten kaum Schwierigkeiten damit, den menschlichen Darsteller wie einen biotechnischen Apparat zu betrachten. Dessen Notwendigkeit war dabei keineswegs automatisch gegeben – konnten doch für die Darbietung exzentrischer Bewegungen, optischer und akustischer Sensationen Maschinen besser geeignet und leistungsfähiger sein als jeder noch so gut trainierte Schauspieler oder Tänzer.[2] Das neue ›Menschenbild‹ findet sich auch in der legendär gewordenen Inszenierung des Großmütigen Hahnrei von Fernand Crommelynck (1922). Hier wurde der Schauspielerkörper in bewusst mechanisch-rhythmischen Bühnenbewegungen skulpturalisiert, die penibel auf die Struktur des Bühnengerüsts von Ljubov Popova abgestimmt worden waren. So entstand der Gesamteindruck einer arbeitenden Mensch-Raum-Maschine, die gleichzeitig ein verherrlichendes Plädoyer für den maschinisierten Menschen war. Ein Jahr zuvor waren in Wien erstmals ›Roboter‹ auf der Bühne zu sehen gewesen. Mit ihrem Stück R.U.R. (Rossums Universal-Robots) hatten die Brüder Čapek den Begriff des ›Roboters‹– abgeleitet von ›robota‹ (tschechisch für ›schwere Arbeit‹ oder ›Zwangsarbeit‹) – überhaupt erst eingeführt. In R.U.R. geht es um den massiven Einsatz von Robotern in der Industrie, in dessen Folge die Menschheit in eine tiefe Krise stürzt, da die Roboter ein eigenes Bewusstsein entwickeln und sich als revolutionäre Einheit gegen ihre Schöpfer organisieren – ein später oft wiederholtes und variiertes Szenario, das jene Angst, aber auch die Faszination thematisiert, die entsteht, wenn es um den schmalen Grat zwischen Mensch und Maschine geht.
Auch die Darsteller in den Tänzen Oskar Schlemmers wurden in den Zwanzigerjahren als ›Maschinentänzer‹ tituliert – das traf aber beim Leiter der Bauhausbühne auf heftige Ablehnung: »Jene sehen anders aus. Es gab einmal in Revue und Varieté solche Maschinenmenschen aus Blech, Rädern und Maschinenreminiszenzen, auch die Metropolisdame Fritz Langs war auf diese Mode frisiert.«[3] Derart direkte ›maschinelle Aspirationen‹ lagen Schlemmer fern. Wenn Oskar Schlemmer die Bühne mechanisierte, dann nicht, um naiv der Maschine zu huldigen, sondern um sie von innen her, durch metaphysische Transzendierung, zu überwinden. Dazu musste er vom Menschen ausgehen, den er aber in eine abstrakte Künstlichkeit überführte, in »ein Unternehmen wider die Natur zum Zweck der Ordnung«.[4]
Ohne den Menschen als Mittelpunkt und Hauptgegenstand war für Oskar Schlemmer das Theater und jede andere Kunst gar nicht denkbar; denn der Mensch »sucht […] den Sinn. Sei es das faustische Problem, das sich die Erschaffung des Homunkulus zum Ziele setzt; sei es der Personifizierungsdrang im Menschen, der sich Götter und Götzen schuf: der Mensch sucht immerdar Seinesgleichen oder sein Gleichnis oder das Unvergleichliche. Er sucht sein Ebenbild, den Übermenschen oder die Phantasiegestalt.«[5] Im Tanz sah Schlemmer geradezu ideale Voraussetzungen für eine Kunst, die den Menschen räumlich und atmosphärisch in eine technoide Umgebung integriert und zugleich eine moderne abstrakte Gestaltung ermöglicht – eine Kunst, in der sich der bewegte Mensch als künstlerisches, abstrahiertes Bild des Leibes thematisieren kann. Seine Skepsis gegenüber einem reinen Maschinentheater war dabei weniger durch Zweifel begründet, »inwieweit der technische Aufwand dem erzielten Effekt entspricht, nämlich wie lange das rotierende, schwingende, sausende Spielwerk, einschließlich aller Variationen der Formen, der Farben und des Lichts zu interessieren vermag«. Er fragte sich vielmehr grundsätzlich: »Kommt es auf das Menschliche an oder auf den Fortschritt? Bildet der Fortschritt auch das Menschliche entsprechend um, und kann dies andererseits mangels Fortschritts irgendwo verkümmern?«[6]
Die Sorge um das ›Menschliche‹ und seine Gefährdung durch Maschinen hat eine lange Tradition und ist zugleich Ausdruck einer bis heute nicht bewältigten Problematik im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen natürlichen Freiheiten und künstlichen Zwängen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die Mechanik gerade zu einer mathematisch berechenbaren Wissenschaft geworden war, wurde die Maschine noch als ein gesellschaftlich wie individuell vernünftiges Ordnungs- und Handlungsmodell betrachtet. Mit wachsendem bürgerlichem Selbstbewusstsein und der Idee individueller Selbstverwirklichung, die auch einen bestimmten Widerstand gegen die Konventionen und das ›Räderwerk‹ der Gesellschaft verlangt, verwandelt sich die Maschine vom Erklärungsmodell für kosmologische und biologische Zusammenhänge in ein Gegenbild zu Freiheit, Spontaneität und Kreativität. »Knechtische Maschinen« stehen nun »freien Geistern« (Jean Paul) gegenüber. Heinrich von Kleist hatte in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater (1800) die Frage aufgeworfen, ob die menschliche Hingabe an das Mechanische, zum Beispiel an die technisch vermittelte Marionettenbewegung, nicht zu einer neuen übermenschlichen, quasi ›göttlichen Grazie‹ verhelfen könnte, das heißt zu einer humanistischen, befreienden Transzendierung der Maschine. Diese Idee, dass sich das einst bedrohliche Maschinenwesen in einen traditionslosen, unschuldigen Befreiungsimpuls verwandeln lässt, faszinierte Oskar Schlemmer ungeheuer und wurde geradezu zum Zentrum seiner Suche nach dem Idealbild eines neuen modernen Menschen. In seinen Bühnenexperimenten, in Tanz- und Bewegungsstudien, die er abwechselnd oder gleichzeitig ›metaphysisches Theater‹, ›Typenbühne‹, ›Kostümballett‹ nannte, rang er darum, ein Anmutspotenzial des Mechanisch-Maschinellen freizulegen. So betrieb Oskar Schlemmer auf der Bauhausbühne, die er von 1923 bis 1929 leitete, ein gegenüber der Maschine positiv eingestelltes künstlerisches Projekt – auch als sinnstiftender Hintergrund und analog zu den anderen Bauhauswerkstätten, in denen neuartige, für die maschinelle Massenproduktion bestimmte Produkte entwickelt worden sind.
Dabei hoffte Oskar Schlemmer auf nichts Geringeres als ein neues Geistesleben, eine neue Metaphysik, die aus dem technisierten Leben hervorgehen könnte. Seine These und schließlich die Begründung seiner Bühnenexperimente war, dass, wenn es gelinge, »diese Eigentümlichkeiten […] auf den Menschen [zu] übertragen«, sich ein neuer »großer Stil«, ein »neues Ganzes«, neue Bilder vom Menschen als »kosmisches«, »körperliches und geistiges Wesen« entwickeln lassen.
Konkret bedeutete dies, sich jeder moralischen Interpretation der Maschine zu enthalten und sich deren ›Wesen‹ so unvoreingenommen wie möglich anzueignen: »Man nähere sich den Dingen, als wäre eben erst die Welt erschaffen worden; man reflektiere eine Sache nicht zu Tode, sondern lasse sie, zwar behutsam, aber frei sich zu entfalten. […] Man gehe vom körperlichen Zustand aus, vom Dasein, vom Stehen, vom Gehen und erst zu guter Letzt vom Springen und Tanzen. Denn einen Schritt zu tun ist ein gewaltiges Ereignis, eine Hand zu heben, einen Finger zu bewegen ein nicht minderes. Man habe ebenso viel Scheu als Achtung vor jeglicher Aktion des Menschenkörpers, zumal auf der Bühne, dieser Sonderwelt des Lebens, des Scheins, dieser zweiten Wirklichkeit, in der alles vom Glanz des Magischen umwittert ist …«[7]
So wie Kleist die Marionette als ein zugleich unbewusstes und potenziell von übernatürlicher Grazie erfülltes Wesen beschrieben hatte, sollten sich Oskar Schlemmers Bauhaustänzer das Abstrakte, das ›Unnatürliche wie auch Übernatürliche‹ der Maschine erobern und verinnerlichen, um als menschliche ›Kunstfiguren‹ so unpersönlich, puppenartig und dinghaft wie nur irgend möglich mit ihrem Gelenkapparat im Raum und den darin vorhandenen anderen Dingen zu agieren. Dann fände sich nach Kleist, »die Grazie wieder ein; so daß sie zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat«.[8]
Karl Marx hatte im 13. Kapitel des Kapital I beschrieben, dass die Arbeit an der Maschine »das vielschichtige Spiel der Muskeln (unterdrückt) und alle freie geistige Tätigkeit (konfisziert)«. Die Kostüme des Triadischen Balletts (1922) und später die Requsiten, Bodengeometrien und Bühnenräume der ›Bauhaustänze‹ (1926–1929) waren im Grunde ein metaphorischer Ausdruck einer solchen Unterdrückung und Kontrolle. Wie die Maschine in der Fabrik den Menschen dazu zwingt, sich ihrem Takt anzupassen, verlangten Schlemmers Kostüme, Requisiten und Bewegungsregeln, dass sich die Tänzer ihnen nicht nur unterordnen, sondern sich der ›Mechanik‹ mit Empathie hingeben. Die Versuchsanordnungen Oskar Schlemmers, der sich mit seinen Tänzern in bewusst einfach modellierten, abstrakten geometrischen Räumen, mit Masken und Kostümen den mechanisch und maschinell gewordenen Dingen seiner sich modernisierenden Umwelt tendenziell ähnlich gemacht hat, können auch als ein poetisches Verfahren beschrieben werden – als ein Ringen um eine neue körper-bildliche Sprache über die zunehmend technologisch bedingten Daseinsverhältnisse. Seine Bühnenexperimente sind Einübungen in eine pragmatische Deutungsabstinenz gewesen und wollten umfassende Erklärungs- und Ordnungsmuster durch ein Spiel mit Ähnlichkeiten sowie eine durchaus anarchistische Freundschaft mit den Dingen ersetzen. Dabei ging es auch um die Frage, was Realität überhaupt sein kann und wie sich ästhetisch eine kritische Reflexion gegen die Zumutungen einer durchrationalisierten Welt sinnvoll und sogar sinnstiftend formulieren lässt.
Oskar Schlemmer hat bekanntlich in seiner Malerei und auf der Bühne versucht, neue symbolische Bilder und metaphysische Zeichen des Menschen zu entwerfen: Heraus kam ein Mensch, der sich der Maschine geradezu hingibt, sich deren kalte Logik, Präzision und Systematik im Wortsinne verinnerlicht und einverleibt. Zugleich ging es ihm aber eben auch darum, bei aller Empathie für das Maschinell-Technisch-Rationale, Modi der Distanzierung zu finden, eine Differenz aufrechtzuerhalten, die den Menschen von der Maschine unterscheidbar bleiben lässt. Oskar Schlemmer wusste: »Die Möglichkeiten sind außerordentlich angesichts der heutigen Fortschritte in der Technik: die Präzisionsmaschinen, die wissenschaftlichen Apparate aus Glas und Metall, die künstlichen Glieder der Chirurgie, die phantastischen Taucher- und militaristischen Kostüme usw.«[9] Zugleicht klagte er: »Die materialistisch-praktische Zeit hat in Wahrheit den echten Sinn für das Spiel und das Wunder verloren. Der Nützlichkeitssinn ist auf dem besten Weg sie zu töten.«[10]
Schlemmer hat seine Erfahrung des neuen ›Zeitalters der Mechanisierung‹ in eigenartig einfache Spielräume, in Apparate aus Menschen- und Dingkörpern übersetzt. Man kann diese vielleicht auch als Abstraktionen oder vereinfachte Modellierungen jener filmischen Maschinenräume ansehen, in denen Schlemmers Zeitgenosse Charlie Chaplin z.B. in Modern Times (1936) zunächst als Automat und Maschinenteil agiert, schließlich aber in einer geradezu fröhlichen Zerstörungsaktion die ganze Fabrik ruiniert. Er, der sich in seinem pantomimischen Spiel mit sich verselbstständigenden Gliedern und Gesten mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den technischen Apparat wie eine menschliche Kunstfigur bewegt, kann schließlich durch eigentlich tödliche Zahnräder rutschen und schwerste Hebel dirigieren, weil diese auf seltsame Weise mitmachen und zu seinen Komplizen werden. So wie Chaplin hat sich auch Oskar Schlemmer nicht starr gegen die Verdinglichung und Mechanisierung des Menschen gestellt und sich bewusst nicht um ein Wieder-natürlich-Werden bemüht, wie dies z.B. in der Lebensreformbewegung oder auch von den Vertretern des Deutschen Ausdruckstanzes versucht wurde. Vielmehr ging es um eine radikale Perspektive des Experimentierens mit dem Körper und den technischen Dingen, in denen sich die Grenzen und Übergänge zwischen ihnen verschieben, diffus werden und unbekannte Zwischenzonen erscheinen. Dorothee Kimmich hat in ihrem Essay Lebendige Dinge in der Moderne diese Haltung der ›Dingfreunde‹ als »artistische Komplizenschaft mit den Dingen« beschrieben, die auch zu einer »spezifischen Sensibilität im Umgang mit den Marginalisierten, den Schwachen und Ohnmächtigen und den Fremden«[11] verhelfen könnte: »So wie ihnen einerseits der eigene Körper zu einem fremden Gegenstand werden kann, können andererseits die fremden Dinge für sie eine ganz besondere Form von Vertrautheit mit dem Fremden vermitteln.«[12]
Vieles von dem, was Oskar Schlemmer über ›den kosmischen Menschen‹ und ›seine materielle, spirituelle und intellektuelle Erscheinungsform‹ geschrieben hat, ist von einem heute merkwürdig überhöht anmutenden Erlösungspathos durchdrungen. Daneben wirken dann die Bilder seiner wie menschliche Puppen agierenden Kostümtänzer nicht selten zuerst befremdlich oder zumindest seltsam komisch. Und manch eine der Schlemmer-Figurinen könnte man sich durchaus auch als Action-Held in einem japanischen Manga oder einem amerikanischen Comic vorstellen, deren Miniatur aus hochwertigem Kunststoff dann in den Verkaufsregalen eines Spielzeuggeschäfts neben Ultraman, Powerranger-Figuren oder einem Ben-10-Monster steht. Es fällt uns nicht immer ganz leicht, in Figuren, die ›der Abstrakte‹, ›Kugelhände‹ oder ›Taucher‹ heißen oder die mit metallischen Helm-Masken und in Kostümen, die wie präzise ausgestopfte Trainingsanzüge wirken und betont einfach mit Reifen, Stäben und großen Kugeln agieren, Oskar Schlemmers Suche nach einer neuen menschlichen Symbolgestalt nachzuvollziehen. Es scheint hingegen sehr lohnend, ihn heute als Experimentator neu zu erkunden und ihn eben nicht nur als jenen metaphysischen Symboliker zu betrachten, wie dies die Kunstgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten getan hat, sondern eben auch als einen ›Dingfreund‹ – ähnlich wie Charlie Chaplin, den Alfred Polgar als einen ›Befreier‹ beschrieben hat, als einen »Lockerer der moralischen, logischen und mechanischen Zusammenhänge, in die der sogenannte ernste Mensch sich heillos verstrickt weiß«.[13]
Auch heute noch fungiert die Maschine als ein Signum der Entfremdung und Tyrannei einer instrumentellen Vernunft – und verweist zugleich auf wesentliche funktionale Zusammenhänge unserer Existenz als Zwitterwesen zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit. Kein Wunder, dass Maschinendiskurse an Brisanz und Relevanz gewinnen – auch angesichts der vielen Fortschritte in den ›Converging Technologies‹ wie Neuro-, Nano-, Info-, Bio- und Kognitionstechnologien, die in jüngster Zeit das Maschinelle zunehmend ins Innere des menschlichen Körpers transportieren und transformieren. Damit verschwindet die Maschine mehr und mehr als äußeres Gegenüber. Sie wird biologisch und natürlich, indem sie von uns, z.B. in Form von Herz- oder ›Hirnschrittmachern‹, durch gentechnisch veränderte Nahrungsmittel, im Dialog mit Computern als ›Geistmaschinen‹ oder bei Organtransplantationen als biotechnische Physis integriert wird.
Wie könnten heutige ›Kunstfiguren‹ derartige Maschinenverhältnisse modellieren und infrage stellen? Sind es Čapeks’ ›Roboter‹, die sich zu den Cyborgs, Mutanten, Hybridwesen, Avataren und Androiden zahlreicher Science-Fiction-Geschichten und -Filmen entwickelt haben? Es sieht ganz danach aus, dass wir auch weiterhin – oder sogar mehr denn je – solche poetischen Kunst-Modelle und Vorstellungsbilder von Menschenmaschinen oder Maschinenmenschen brauchen, um ein besinnliches und nicht nur instrumentales Nachdenken und Empfinden darüber entwickeln zu können, wie ›natürlich‹ und nah uns Maschinen kommen sollen oder dürfen. Schließlich sollte nicht nur in Ethikkommissionen darüber diskutiert werden, wie weit wir uns selbst maschinisieren oder maschinisieren lassen. Oskar Schlemmers ›Kunstfiguren‹ haben diese Frage in den Zwanzigerjahren auf der Bühne gestellt. Seine Tänze sind weit mehr als ein kurioses, aber unterhaltsames Theater mit lebenden Kostümpuppen, wie dies mitunter in Rekonstruktionen und Re-Interpretationen vermittelt wird. Natürlich sind es sehr formalisierte, geradezu formalistische Tänze, die manchmal ihren artifiziellen Charakter bis zur Langeweile betonen. Aber gerade dieses Artifizielle, ihr letzten Endes archaischer mechanischer Gliederpuppen-Charakter ist das entscheidende Mittel, mit dem gegen das Natürlich-Werden des Technischen eine Differenz behauptet wird. Das Künstliche, die mechanisch reduzierten Bewegungen mit ihren harten Schnitten repräsentieren eben nicht eine perfekt funktionierende Technologie, sondern vielmehr den Modus einer kontinuierlichen Intervention des Menschen. Schlemmer nutzte die Bühne und seine Bilder, um im ›Gestaltwandel des Menschen‹ neue Daseinsbedingungen im ›Zeitalter der Abstraktion und der Mechanisierung‹ analytisch zu modellieren und erfahrbar zu machen. Es ging um Fragen nach der Natur und Technik des Lebendigen, nach den Visionen und Ängsten, die mit einer psychophysischen, aber auch psychopolitischen Umgestaltung des Menschen verbunden sind. Wie kann unser natürlicher, immer auch zugleich mental wie technisch bedingter Leib neu imaginiert und neu belebt werden? Die Art und Weise, in der Schlemmers Tänze die Differenz von Mensch und Maschine, von Künstlichkeit und Abstraktion mit ›Kunstfiguren‹ im Wortsinne umspielten, seine fragende Haltung, die versucht, den einst von Descartes formulierten Dualismus von Leib und Seele auf die Spitze zu treiben, um ihn zu überwinden, ist mehr denn je relevant.
Heute wäre vielleicht eine Fernsehserie wie Real Humans, in der surreal anmutende Androiden als neue ›Kunstfiguren‹ auftreten, ein würdiger Nachfolger der Schlemmer-Experimente. In dieser schwedischen Produktion von 2012 erleben wir eine Parallelwelt, die unserem heutigen Alltag in fast allem ähnelt, wären da nicht die ›Hubots‹, diese nach menschlichem Vorbild hergestellten menschlich-maschinellen Fantasiegestalten, in denen sich die alten Fragen neu bündeln und uns daran erinnern, dass wir uns sehr wohl immer wieder als vollständige Maschinen denken können, aber doch sehr unsicher sind, wie wir mit dieser sehr realen Perspektive umgehen sollen, wenn sie konkret wird und schließlich uns ganz persönlich betrifft.
[1] Oskar Schlemmer, Tagebuch, April 1926, in: Tut Schlemmer (Hg.), Oskar Schlemmer. Briefe und Tagebücher, Stuttgart 1977.
[2] Vgl. László Moholy-Nagy, Wie soll das Theater der Totalität verwirklicht werden?, in: Bauhaus, März 1927, S. 6.
[3] Oskar Schlemmer, Mensch und Kunstfigur, in: Oskar Schlemmer et al., Die Bühne im Bauhaus (Bauhausbücher 4 [1925]), Neue Bauhausbücher, Mainz 1965, S. 7–24.
[4] Oskar Schlemmer, Missverständnisse (1931), in: Oskar und Tut Schlemmer: Werkbiografie O. S. mit Briefauszügen und Originaltexten. in: Lebensdaten und Selbstzeugnisse. Beispiele: Kunst in der Verfolgung. Entartete Kunst (Ausstellung) 1937 in München. Beiheft. Hrsg. v. Landesinstitut für Erziehung & Unterricht Stuttgart. Neckar. Villingen-Schwenningen 1998; darin: S. 69.
[5] Oskar Schlemmer, Mensch und Kunstfigur, in: Oskar Schlemmer et al., Die Bühne im Bauhaus (Bauhausbücher 4 [1925]), Neue Bauhausbücher, Mainz 1965, S. 7–24.
[6] Oskar Schlemmer, Tagebuch, November 1925, in: Schlemmer 1977, a.a.O.
[7] Oskar Schlemmer, Tagebuch, Mai 1929, in: ebd.
[8] Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater. Mit einem Vorwort von Wilfried Nold und einem Beitrag von Wolfgang Kurock, Frankfurt am Main 2007.
[9] Schlemmer [1925] 1965, a.a.O.
[10] Ebd.
[11] Dorothee Kimmich, Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011, S. 104.
[12] Ebd.
[13] Alfred Polgar, Chaplin, in: Dorothee Kimmich (Hg.), Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt am Main 2003, S. 34.
Torsten Blume, geboren 1964, ist wissenschaftlicher und künstlerischer Mitarbeiter der Stiftung Bauhaus Dessau und Kurator der Ausstellung Mensch-Raum-Maschine. Die Bühnenexperimente am Bauhaus (Dezember 2013 bis April 2014). Außerdem ist er unter anderem verantwortlich für experimentelle Projekte auf der historischen Bauhausbühne.