„Ich bin kein Russe“ – Ein Beitrag in "bauhaus" 5 von Peter Müller

- Hannes Meyer hoffte nach dem Krieg darauf, in Ostdeutschland seine Erfahrungen vom „Tropischen Städtebau“ weitergeben zu können – doch die SED ließ ihn diffamieren
Während am 25. April 1950 über Mitteleuropa eine Kältewelle hereinbricht, wird in Moskau ein Berufsverbot verhängt: „Johannes Meyer als Vertreter des Konstruktivismus leugnet die Architektur als Kunst. Er sagt: Die Aufgabe des Architekten ist, den Grundriß zu schaffen, die Wände macht dann der Maurermeister. Künstlerische Aufgaben stellen sich solche Architekten nicht. Ihre Auffassung beruht auf einer pessimistischen Philosophie vom Untergang der Kunst. Technik und Vernunft seien das einzige, was übrig bliebe. Diese Auffassung hat nichts mit unserer marxistischen Auffassung gemein.“[1] Als Ankläger und Richter fungiert Arkady Grigorjewitsch Mordvinov, der vom Modernisten zum Stalinisten gewandelte und nun mächtige Präsident der sowjetischen Akademie für Architektur. Zu seinen Vollstreckern hat er die Mitglieder einer ostdeutschen Regierungsdelegation bestimmt, die sich unter Leitung ihres Aufbauministers auf einer sechswöchigen Studienreise durch die UdSSR befinden. Die Politiker, Architekten und Städteplaner haben den Auftrag, den sowjetischen Planungs- und Gestaltungskanon auf die DDR zu übertragen. Unter ihnen befinden sich mit Waldemar Alder und Edmund Collein auch zwei Bauhäusler, die bei Hannes Meyer studiert hatten und nun den Wiederaufbau Ost-Berlins prägen sollen.
Mordvinov kannte Meyer seit den Zwanzigerjahren. Zu dieser Zeit hatte er in Deutschland Architekten für das sowjetische Aufbauprogramm angeworben und dabei auch Dessau besucht. Die seinerzeit von Mordvinov genährte und von Meyer adaptierte Hoffnung, dass sich einige Errungenschaften des Bauhauses nach ideologischer Reinigung auch auf die Sowjetunion übertragen lassen würden, hatte sich zwei Jahrzehnte später indes erledigt. Der Akademiepräsident, der mit der Moskauer Gorkistraße die Blaupause für repräsentative Aufmarschstraßen in ganz Osteuropa geschaffen hatte, plädierte nun für eine Architektur der Größe und Erhabenheit. Das Bauhaus dürfe nur als Etappe in der Entwicklung des Imperialismus verstanden werden, ohne Ideal und künstlerischen Wert.
Hannes Meyer ahnt in jenem wechselhaften Frühling nicht, dass die sowjetischen Genossen ihn, Walter Gropius und Ernst May zu persönlich haftenden Gesellschaftern des kapitalistischen Werteverfalls erhoben haben, deren Gebäude man „lieber heute als morgen durch andere Bauten ersetzen“[2] würde. Erst wenige Wochen zuvor ist er aus dem mexikanischen Exil in die Schweiz zurückgekehrt und erträumt sich eine Zukunft in der DDR als tropisch fernem und gleichwohl zum Greifen nahem Paradies. Trotz seines stilistischen Scheiterns in der Sowjetunion, trotz seines persönlichen Scheiterns am Rande der mexikanisch-trotzkistischen Kabalen hängt er ungebrochen der linken Vision kollektiven Lebens und Arbeitens nach, die er nun jedoch ohne Exilantenstatus und Sprachbarriere genießen will. Das kriegszerstörte Ostdeutschland ist seine Terra incognita, ein unter Stalins Gunst erstrahlendes Land. Die Möglichkeiten, befreit von den Beschränkungen des Privateigentums an Grund und Boden zu planen und zu bauen, scheinen schier opulent. In der UdSSR hatte er mit eigenen Augen den etappenlosen Aufstieg von der vormodernen zur nachkapitalistischen Gesellschaft beobachten können und die Fähigkeit trainiert, die Schattenseiten des Systems auszublenden, die letztlich das persönliche Schicksal lenken. Die unerschöpflichen Ressourcen, die ihm der Sozialismus à la DDR verspricht, deren Symbolik – die aufgehende Sonne, der üppige Ährenkranzes, das Fahnenmeer oder das floral überwucherte Säulenkapitell, das er noch aus der Moskauer Metro kennt – lösen in Meyer bereits in Mexiko die Sehnsucht nach dem ostelbischen Arkadien aus, wo er sein in der Ferne gereiftes Architekturverständnis endlich umsetzen, wo er endlich bauen möchte. Fieberhaft versucht er daher nach 1945, sein durch Krieg und Emigration geschwächtes Briefnetzwerk neu zu knüpfen.[3] Im Osten Deutschlands hält er unter anderem Kontakt zu Waldemar Alder und Heinrich Starck, dem amtierenden Magistratsbaudirektor Ost-Berlins. Besonders verbunden fühlt er sich der 1905 in Łódź geborenen Architektin Karola Bloch, die mit ihrem Mann Ernst 1949 aus den Vereinigten Staaten nach Leipzig gekommen ist und nun vor allem Kindergärten entwirft. In ihrem oft unvermittelten Nebeneinander von fachlichem Austausch und persönlichem Bekenntnis sind es gerade diese Briefe, die das Bild eines Suchenden zeichnen, der nach den Entbehrungen des Exils auf eine Chance im sozialistischen Deutschland hofft. Von einigen Berichten aus Leipzig muss er sich dabei besonders angezogen fühlen, denn Bloch vermeldet: „Wir haben keinerlei materielle Sorgen und leben ein volles und schönes Leben.“[4]
Arbeit und Anerkennung, das waren die Träume, die Meyer mit seiner Rückkehr nach Europa verband. Bereits 1947 hatte er von Mexiko aus versucht, sich durch einen Gesinnungsaufsatz bei den Genossen in Ost-Berlin in Erinnerung zu bringen. Immer wieder machte er klar, wo er „anno 1941 hinsichtlich der Sov.Arch. stand“,[5] nämlich an der Seite Mordvinovs: „ich bin, wie sie sicher wissen, völlig einverstanden mit der ‚nationalen schwenkung‘, welche die architektur (mit anderen kulturgebieten) drüben nehmen muss“, schrieb er bereits 1937 an Bloch. „Das ist einfach eine politische notwendigkeit in einer welt, in der die ‚nationalen belange‘ zum rüstzeug der kulturellen verteidigung geworden sind.“[6] Eine offizielle Reaktion auf seine Vorstöße erhielt er aus der DDR nie, im Gegenteil: Dem spätheimkehrenden Westemigranten hing die ‚mexikanische Krankheit‘ an, jenes aus Neid und Misstrauen gezeugte Stigma, das in der DDR eine Karriere bestenfalls in zweiter Reihe zuließ. Fieberhaft suchte Meyer daher nach einem Weg, sich in die von der SED forcierte Kunstdebatte einzubringen – vergeblich. An die Partei müsse er sich wenden, riet ihm die sensible Bloch, insbesondere nachdem Meyer persönlich ins Fadenkreuz geraten war: „Sie müssen an Collein oder Partei, oder Neues Deutschland, das ist egal, Ihre Stellungnahme zu den heutigen Dingen der Architektur herantragen. Bestimmt ist das nicht leicht und bestimmt wollen Sie sich dafür Zeit lassen. Aber bevor das nicht geschehen ist, besteht keinerlei Möglichkeit, eine Verbindung mit hier zu bekommen.“[7]
Die heutigen Dinge der Architektur, das sind 1951 vor allem die Gestaltung der Ost-Berliner Stalinallee und die Haltung der DDR zum Bauhaus. Während Meyer das aus Moskau importierte Paradigma einer Architektur ‚national in der Form und demokratisch im Inhalt‘ als gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsauftrag versteht, suchen die Architekten in Ost-Berlin fieberhaft nach einem Baustil, der ‚schön im Sinne des Volksempfindens‘ ist und sich nachträglich mit ein wenig Schinkel-Exegese auch noch ideologisieren ließe. Meyer misst die Stilsuche nach Jahrzehnten, die SED hingegen agiert mit Wochenfrist: Im Sommer 1951 fingiert sie einen Wettstreit zwischen den künftigen Meistern der Deutschen Bauakademie – Hermann Henselmann, Richard Paulick und Hanns Hopp – zur Gestaltung eines Hochhauses an der Ost-Berliner Weberwiese. Alle zuvor erarbeiteten Entwürfe werden kurzerhand als formalistische „Eierkisten“ diffamiert und das Triumvirat aufgerufen, in nur acht Tagen Werke von „Schönheit und Kraft“ vorzulegen, die der neuen Zeit ein bauliches Gesicht geben können. Eine ganze Seite widmet das Parteiorgan Neues Deutschland diesem Entwurfsringen, wobei der Beitrag „Über den Baustil, den politischen Stil und den Genossen Henselmann“ die Gestaltung von Arbeiterwohnungen zu einer Frage von Krieg und Frieden erklärt.[8] Übergangslos wird aus der Stilkritik ein persönlicher Angriff gegen den ideologisch wie gestalterisch schwankenden Henselmann, der prompt reagiert: nach nur fünf Tagen legt er „schöne, humanistische, mit dem Funktionalismus brechende“ Skizzen für die Weberwiese vor, die die SED postwendend zur Ausführung bestimmt.[9] Das Neue Deutschland ist von der eigenen Motivationsleitung so begeistert, dass sie Henselmann mit dem jungen Napoleon vergleicht, von dem man noch Größeres erwarte. Meyer hingegen ist konsterniert: „Ich bin kein Russe und halte mich für unfähig, eine national-russische Form in der Architektur zu schaffen oder mitzuschaffen. […] Dagegen würde ich mich getrauen, die St.-Allee im Sinne der Bau-Kunst und Malerei Schinkels auf unsere Zeit fortzuführen, d.h. die gegenseitigen Durchdringungen der Aussen- und Innenräume in strenger Proportionierung, nach einheitlicher Regel, einem musikalischen Gehäuse von Bau vergleichbar, als Ausdruck deutschen Wesens anzupacken. […] All das hat nichts mit Epigonentum (fin de siècle) 19. Jahrhundert zu tun. Noch weniger mit dem jetzigen ,Schöpferprozess‘, der innert 8 (ACHT) Tagen die ,funktionellen‘ Fassaden der St.-Allee mit klassischem ,Geist‘ bekleckert.“[10]
Man darf heute davon ausgehen, dass Henselmanns Sonderrolle in der Posse um die Neugestaltung der Weberwiese, die ihn an die Spitze des Ost-Berliner Wiederaufbaus katapultierte, mit Kalkül gewählt war.[11] Er revanchierte sich bei den Genossen unter anderem mit dem wortgewaltigen Artikel „Der reaktionäre Charakter des Konstruktivismus“, der am 4. Dezember 1951 im Neuen Deutschland einen letzten Höhepunkt der Formalismusdebatte einleitete. Zugleich vollstreckte erst dieser Aufsatz Mordvinovs Urteil über Hannes Meyer öffentlich. Im Ton eines Schauprozesses rechnete Henselmann in den für ihn typisch pointierten, holzschnittartigen Argumenten mit allen Strömungen der Moderne ab und bescheinigte insbesondere dem sauber nach Gropius und Meyer geteilten Bauhaus zugleich eine ultralinke wie ultrarechte Position, die Nähe zum Kleinbürgertum wie zum Faschismus.[12] In Meyers zusammenhanglos zitiertem Manifest „Bauen“[13] von 1928 erkannte er einen „mystisch-verworrenen Grundzug“, eine „programmatische Kampfansage gegen die Architektur als Baukunst und gegen die Kunst schlechthin.“ Nach den Regularien der Zeit war dies eine von höchster Stelle gebilligte Abrechnung mit Meyer, der Edmund Collein noch auf derselben Zeitungsseite beipflichtete. Vier Tage später wurde bei der Gründung der Deutschen Bauakademie dann endgültig der Stab über Meyer gebrochen, als ihn auch Walter Ulbricht als kunstverächtenden Vertreter des Formalismus brandmarkte.
Meyers jahrzehntelange Erfahrung mit dem stalinistischen System von Kritik und Selbstkritik, Verrat und Unterwerfung mag ihm geholfen haben, diese Tropengewitter zunächst zu parieren. Die Freundin Bloch möge nicht um ihn besorgt sein, schreibt er nach Leipzig „ich fühle mich gar nicht in der Defensive diesen Dialektikern gegenüber.“[14] Wie tief ihn die Methode des Prangers, die Fixierung seiner Kritiker auf Aussagen aus dem Jahr 1928, die er selbst als überwunden ansah, wirklich traf, bekennt er wenig später: „Ich weiß gar nicht, wie man es den Herren bei Ihnen recht machen soll. Oder können Sie es mir sagen, was ein armer Schweizer tun soll, der nach hiesigen Begriffen eine eindeutig-klare Linie in seinen Fachpublikationen innehält, (und dafür hierzulande geächtet wird) und der dafür dortseits höchsten Tadel einstecken darf […] Können Sie es mir erklären, warum die aus einer gänzlich verschiedenen Situation […] entwickelten Zitate überhaupt in die heutigen Auseinandersetzungen gezerrt werden müssen, und alle späteren ignoriert werden?“[15] Er müsse sich an die Partei wenden, rät Bloch, an die Partei …
Meyer hat sich nicht an die Partei gewandt, es hätte wohl auch wenig Sinn gehabt. In der Formalismusdebatte ging es der DDR-Elite um die Etablierung der eigenen Position vor allem durch Abgrenzung, nicht durch Aufklärung. Meyer wusste stets zu schätzen, dass man ihn seinerzeit in der Sowjetunion „noch mit glacé-handschuhen“ angefasst hatte.[16] Auf diese Nachsicht durfte er an der Front des Kalten Krieges nicht mehr hoffen. Verglichen mit Pragmatikern wie Henselmann oder Paulick, der den sowjetischen Gestaltungskanon erst als „Kitsch“ und „feudalistische Narrenkappe“ geißelte, bevor er ihn gekonnt umsetzte, bleibt Meyer tatsächlich ein Dogmatiker.[17] An seiner Beteiligung am Wiederaufbau, an einer gestalterischen Konkurrenz gar, war der DDR nicht gelegen. Auch sein größter Wunsch, dort einen Lehrstuhl für Stadt- und Regionalplanung zu erhalten, auf dem er seine Erfahrungen im „Tropischen Staedtebau“ weitergeben könne, blieb unerfüllt.[18] Meyer starb im Juli 1954, ein halbes Jahr bevor in Moskau mit der Kritik am verschwenderischen Stil eines Mordvinovs die „Wende im Bauwesen“ eingeläutet wurde, die letztlich auch zur Rehabilitierung des Bauhauses führen sollte. Karola Bloch wurde 1957 aus der SED ausgeschlossen. Sie verließ die DDR 1961.
Peter Müller ist Kunsthistoriker und Publizist. Geboren 1967 in Roßlau/Elbe, Studium der Kunstgeschichte, Publizistik und Informatik an der Freien Universität Berlin und der Universität Rostock. 1997 Magister Artium mit einer Arbeit zur Planungs- und Baugeschichte des Berliner Fernsehturms („Symbol mit Aussicht“). Zwischen 1998 und 2001 Mitglied des Graduiertenkollegs „Politische Ikonografie“ an der Universität Hamburg und Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2002 Promotion mit einer Arbeit zur Geschichte der Ost-Berliner Repräsentationsarchitektur im deutsch-deutschen Kontext („Symbolsuche“). Er forscht zur Verbindung von Politik und Stil in Kunst und Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg.
[1] Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (Hg.): Reise nach Moskau. Dokumente zur Erklärung von Motiven, Entstehungsstrukturen und Umsetzungskonflikten für den ersten städtebaulichen Paradigmenwechsel in der DDR und zum Umfeld des „Aufbaugesetzes“ von 1950, S. 112
[2] Protokoll der Tagung des Ministeriums für Aufbau am 2.06.1950, in: Reise nach Moskau, a.a.O., S. 143–153, hier S. 146
[3] Hain, Simone: ABC und DDR. Drei Versuche, Avantgarde mit Sozialismus in Deutschland zu verbinden, in: Feist, Günter/Gillen, Eckhart/Vierneisel, Beatrice (Hg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990, Berlin 1996, S.430-443, insbes. S.432-435. Winkler, a.a.O., S. 220ff
[4] Brief von Karola Bloch an Hannes Meyer vom 21.10.1951, a.a.O.
[5] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 1.11.1951 und so nochmals im Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 19.12.1951, a.a.O
[6] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 18.3.1937, a.a.O.
[7] Brief von Karola Bloch an Hannes Meyer vom 28.04.1952, a.a.O.
[8] Herrnstadt, Rudolf: Über den Baustil, den politischen Stil und den Genossen Henselmann, in: Neues Deutschland vom 31. Juli 1951
[9] Herrnstadt, Rudolf: Unsere Architekten antworten, in: Neues Deutschland vom 3. August 1951
[10] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 1.11.1951, a.a.O.
[11] Düwel, Jörn: Baukunst voran! Architektur und Städtebau in der SBZ/DDR. Berlin 1995, S. 148
[12] Henselmann, Hermann: Der reaktionäre Charakter des Konstruktivismus, in: Neues Deutschland vom 4. Dezember 1951.
[13] Meyer, Hannes: Bauen, in: Bauhaus 2/1928, S. 12–13
[14] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 19.12.1951, a.a.O.
[15] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 25.2.1952, a.a.O.
[16] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 18.3.1937, a.a.O.
[17] Müller, Peter: Symbolsuche. Die Ost-Berliner Zentrumsplanung zwischen Repräsentation und Agitation. Berlin 2005
[18] Brief von Hannes Meyer an Karola Bloch vom 1.11.1951, a.a.O.