Jahresthema 2022
Hygiene

Mit den im historischen Bauhaus entwickelten Bauten und Ausstattungen hat sich eine Vorstellung von Sauberkeit geformt, die auch spätere minimalistische Architektur- und Designentwicklungen im 20. Jahrhundert begleitete. „Sauber“ hinsichtlich der gestalteten Form in Dingen und Bauten brachte eine strukturierende Ordnung zum Ausdruck, die das soziale Leben einfacher machen sollte. Räume und Ausstattungen wurden mit glatten, sauberen und harten Oberflächen aus künstlichen, industriell gefertigten Materialien überzogen. Elektrische Beleuchtung brachte alles Verborgene und allen Schmutz ans Licht. Mit dem Versuch, Gebäude zu schaffen, die das Leben, die Arbeit und die Gedanken der Menschen strukturieren und ordnen, wurde „Sauberkeit“ in einem realen, materiellen ebenso wie in einem sozialen und moralischen Sinn zu einem maßgebenden Konstrukt.

Historisch griffen die Argumente des Neuen Bauens und des Bauhauses vom „befreiten Wohnen“ durch Licht, Luft und Sonne die schmutzigen Hinterhöfe der Metropolen als Orte der Krankheit und des Chaos auf. Reinigung wurde dabei als Befreiung verstanden. Sie erfasste alle Lebensbereiche: von der überbordenden Dekoration der Architektur und des Interieurs des 19. Jahrhunderts, über den Wildwuchs der Städte, die katastrophalen Erfahrungen des Krieges in den Köpfen und Körpern der Menschen, bis hin zu Armut und Not. Neue Wissensorte und bildgebende Verfahren unterstützten dies: Mikrobiologie, Röntgen, Arbeitswissenschaften, Soziologie, Rassenlehre, Statistik etc. Sie stellten das Instrumentarium zur Analyse, Beobachtung, Erfassung, Durchsetzung und Kontrolle der Methoden der Säuberung bereit. Hygienische Verfahren der Desinfektion, Sterilisation und Pasteurisation trugen wesentlich zur Seuchenbekämpfung und zur Verringerung etwa der Säuglings- und Kindbettsterblichkeit bei – aber eben auch zur Ideologisierung des „reinen Volkskörpers“. Diese Zwiespältigkeit von Hygiene und Sauberkeit findet in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten schließlich ihren grausamen Höhepunkt.

Seit längerem stehen diese reinigenden, läuternden und gleichmachenden Muster jedoch in der Kritik. Denn „Reinigung“ bedeutet auch Trennung, Sortierung, Absonderung: hier Natur, dort Kultur; hier Menschen, dort nicht-menschliche Lebewesen. Im Zuge dieser Prozesse wurden Wissenskulturen, die auf Verflechtungen von Natur und Kultur beruhten, als minderwertig angesehen und damit an den Rand gedrängt. Mit der Sensibilisierung für Vermischungen, Hybridisierungen und Ränder geraten nun Mischverhältnisse und Übergangssysteme in den Fokus – auch im Blick zurück.

Mit dem Jahresthema Hygiene wird sich die Stiftung Bauhaus Dessau diesem für die Moderne so wichtigen Gestaltungs- und Diskursfeld widmen und einen prüfend-kritischen Blick auf Regime und Methoden der „Reinigung“ werfen. Damit eröffnen sich neue Felder für künstlerische und gestalterische Forschungen, die in Design, Architektur, künstlerischer und kuratorischer Praxis den Vermischungen im „Schmutz“ und in der „Reinheit“ nachspüren – und damit nicht einer vereinheitlichenden Ordnung, sondern der Vielfalt verschiedener Ordnungen Raum geben.